Auch in diesem Jahr habe ich für den Shoah-Gedenktag aus meiner Sammlung ein Foto herausgesucht. Es zeigt Hedwig Beller 1941 mit ihrer Tochter Gusty in Neu Sandez (Nowy Sacz), offenbar kurz vor der Abriegelung des Ghettos. Nur kurze Zeit nach der Aufnahme dieses letzten Fotos wurden beide ermordet, spätestens bei der „Liquidierung“ des Ghettos im August 1942.
Hedwig Beller wurde 1879 in Dabrowa als Chaja Brand geboren. Sie heiratete 1914 Leo (Leib) Beller (1881-1930). Das Ehepaar lebte zunächst in Rzeszow, wo die Kinder Hersch (Hermann, 1908-1911), Perl „Pepi“ (1910-1986), Gitla Ryfka „Gusty“ (1912-1942, ermordet) und Abraham Mortko (Markus, 1913-1942, Tod auf der Flucht) zur Welt kamen. Am 1. Juli 1914 kam die Familie nach Altenburg. Hier wurde noch Sohn Luser (Ludwig, 1916-2007) geboren. Die Familie lebte recht zurückgezogen. Nachdem Leo Beller nach Komplikationen während eines chirurgischen Eingriffs gestorben war, versorgte Hedwig Beller die Familie allein. 1931 zog Tochter Perl nach ihrer Eheschließung nach Frankfurt/Main sowie Abraham Mortko und Luser Beller nach Leipzig. Hedwig und Gusty Beller blieben noch bis 1935 in Altenburg und zogen dann nach Leipzig. Während Perl Beller schon 1932 mit ihrem Mann und ihrem Kind nach Brasilien auswanderte, blieben die anderen Familienmitglieder in Deutschland. Luser war Werbegrafiker im Kaufhaus Ury und Abraham Mortko Beller Lehrer an der Jüdischen Volksschule. Im Zuge der „Polenaktion“ wurden die Familienmitglieder am 28. Oktober 1938 nach Polen abgeschoben. Die Bellers kamen zunächst in Krakau unter, doch die beiden Beller-Männer flohen nach dem deutschen Überfall auf Polen zu Fuß in Richtung Osten. Nach einem Zwischenhalt in Lemberg bei Bekannten aus Altenburg, den Goldbergs, setzten sie ihre Flucht ostwärts fort. Abraham Mortko Beller starb 1942 an den Folgen eines Sonnenstichs in Kokand (Usbekistan). Luser Beller blieb dort und überstand den Zweiten Weltkrieg. Hedwig und Gusty Beller wurden im September 1940 aus Krakau ausgewiesen und nach Neu Sandez verschleppt, wo 1941 ein Ghetto eingerichtet wurde. Die Bellers hielten untereinander Kontakt, weil sie auf Ausreisepapiere aus Brasilien hofften. Auch zu anderen jüdischen Familien aus Altenburg blieben sie stets in postalischem Kontakt, wie überlieferte Briefe und Postkarten belegen. Doch die Hoffnung auf Ausreisepapiere sollte sich nicht erfüllen. Hedwig und Gusty Beller wurden Opfer der Shoah.
Durch überlieferte Korrespondenz haben wir heute einen Einblick in den Alltag, zumindest in den Teil, der durch die „Zensur“ ging. Wenn Gusty Beller in einem Brief an ihren Bruder Luser vom 16. Mai 1941 schrieb: „Wir sind soweit gesund, nur muss ich andauernd die Kleider verengen“, verbirgt sich dahinter der Hunger im „Jüdischen Wohnbezirk“. Wahrscheinlich konnte Gusty Beller, die eine begabte Schneiderin war, noch ein wenig Geld für den Lebensunterhalt verdienen. Sie schrieb: „Ich habe jetzt schon einen kleinen Kundenkreis erworben und (es) sind alle zufrieden. Meine Spezialität (sind) Mäntel und Kostüme, aber leider (wird) wenig bezahlt, alles (sind) arme Schlucker“. Und später: „Den Mantel von der lieben Mutter hatte ich umgearbeitet, ist sehr schick geworden und hat mir überall Reklame gemacht. Ich habe augenblicklich Arbeit, doch sehr wenig davon. Von Altenburg bekommen wir öfters Post und Päckchen, alte treue Freunde. Wie gerne hätten wir euch Kleidung geschickt, denn wir können uns vorstellen, wie notwendig Ihr sie gebrauchen könnt. Aber leider sind wir immer blank“. Aber auch über Ärger mit Vermietern, die Probleme in der Beschaffung eines Visums oder Familienangelegenheiten berichtet Gusty Beller ihren Brüdern. In einem Brief vom 24. Februar 1941 schreibt sie: „Wenn wir uns wiedersehen, gibt es viel zu erzählen“. Dazu sollte es nicht kommen. Wie Millionen anderer Juden wurden Hedwig und Gusty Beller Opfer des nationalsozialistischen Terrors.
2015 wurden am Wohnort der Bellers in Altenburg, dem Haus Schmöllnsche Straße 6, im Beisein der beiden Töchter Luser Bellers „Stolpersteine“ in Erinnerung an die Familie gelegt.
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Beitrag zum Holocaust-Gedenktag 2022
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