Verblasste Spuren

Obermayer German Jewish History Award 2015 

Vor 75 Jahren: "Polenaktion" bedeutet für etwa 50 Juden aus dem Altenburger Land die Zwangsausweisung

Spätestens nach der Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich am 12. März 1938 wuchs in den angrenzenden Staaten die Sorge eines noch größeren Zustroms jüdischer Emigranten. So wurden vielerorts die Einreisebestimmungen verschärft, um den Flüchtlingsstrom zu begrenzen. Anders als die anderen Staaten richtete die polnische Regierung dabei gesetzliche Bestimmungen auch gegen eigene Staatsbürger. Am 31. März 1938 verabschiedete das polnische Parlament ein Gesetz, welches es ermöglichte, polnischen Staatsbürgern die Staatsbürgerschaft zu entziehen, wenn sie länger als fünf Jahre ununterbrochen im Ausland lebten. Die Argumentation hinter der eingreifenden Vorschrift war der angebliche Verlust der Verbindungen zur polnischen Nation. Von der Regelung betroffen waren im gesamten Deutschen Reich (mit Österreich) wohl etwa 50.000 Juden.

 

Später besserte die polnische Regierung – offenbar aus Angst vor einer Massenausweisung aus dem Deutschen Reich – die gesetzlichen Bestimmungen nach. So sollten im Ausland lebende Inhaber polnischer Pässe die Staatsangehörigkeit nur dann verlieren, wenn sie nicht einen rechtsverbindlichen Vermerk im Pass vornehmen ließen. Die Betroffenen sollten sich beim jeweiligen Konsulat melden und einen Kontrollvermerk vornehmen lassen, ansonsten wäre der Pass am 30. Oktober 1938 automatisch ungültig geworden. Mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit wäre auch die Berechtigung zur Einreise nach Polen verwirkt gewesen.

 

Als diese Bestimmung der nationalsozialistischen Regierung zur Kenntnis gelangte, verfügte sie ab dem 27. Oktober 1938 gegenüber Tausenden polnischen Juden im Deutschen Reich einen Ausweisungsbefehl, verhaftete und internierte die Betroffenen und schob sie in Sammeltransporten – zu Fuß oder per Bahn – über die polnische Grenze ab.

 

In Altenburg wurden am ab dem frühen Morgen des 28. Oktober 1938 einige Familien von Polizeikräften aufgesucht und festgehalten. Jüdische Kinder wurden von der Polizei aus der Schule geholt und nach Hause gebracht. Für die Betroffenen galt es, in kurzer Zeit Koffer zu packen, Wohnungen oder Geschäfte zu übergeben, eventuelle Vollmachten zu fertigen oder Proviant zu organisieren. Die Staatsmacht wollte die „Polenaktion“ – so hieß de Ausweisung im Nazijargon – möglichst unbemerkt und zügig durchführen. Die Familien wurden sodann im Gefängnis in der Nähe der Brüderkirche interniert und harrten dort bis zum Abend aus, ohne genau zu wissen, was geschieht. Es ist überliefert, dass der Kantor der jüdischen Kultusgemeinde, Israel Waldmann aus dem polnischen Stryi, so laut betete, dass man ihn noch auf dem Markt hören konnte. Waldmann wollte damit wohl zum einen seinen Zorn und seine Verbitterung ausdrücken und zum anderen den Mitleidenden Mut machen.salomonrosenmann

 

Abgeschoben wurden dabei ganze Familien, auch wenn Kinder z. B. in Altenburg geboren waren. Maßgeblich war nur, dass das Familienoberhaupt nach „völkischem Recht“ Pole war. Die Auslegung des Begriffs war sehr weit, denn die staatliche Zugehörigkeit der Geburtsorte wurde oft gar nicht beachtet – manchmal sogar ganze Regionen. Galizien zum Beispiel wurde nach dem ersten Weltkrieg zwischen Polen, Rumänien, Ungarn und der Slowakei aufgeteilt. Doch das spielte keine Rolle, wollte man doch unliebsame Juden loswerden.

 

Einigen Familien nahm man die jüngeren Kinder weg, so z.B. den Familien Oronowicz und Rotenberg. Die Kinder kamen in das jüdische Kinderheim in der Jacobstraße 7.

Am Abend wurden die Altenburger Juden mit einem Sonderzug nach Leipzig gebracht und von dort aus mit weiteren Juden (z.B. aus Leipzig) über die polnische Grenze nach Beuthen in Oberschlesien (heute Bytom) gebracht. So verband sich auch das Schicksal der 1933 bzw. 1935 nach Leipzig gezogenen Familie Beller mit dem der Familien, die in Altenburg lebten.

 

Am Bahnsteig spielten sich teils tragische Szenen ab. So wusste Emanuel Goldberg wohl nicht, dass er an diesem Tag seine Eltern Wilhelm und Cilly sowie seine Geschwister das letzte Mal sehen würde. Während Emanuel von der Kinder- und Jugend-Alijah gerade noch rechtzeitig nach Palästina gerettet wurde, gingen seine Geschwister und seine Eltern im Ghetto Lemberg bzw. in Kiew dem Tod entgegen. Wolf Goldberg wurde in Altenburg nicht aufgegriffen, weil er mit dem Auto weggefahren war. Als er vom Schicksal seiner Familie hörte, fuhr er nach Leipzig, stellte sich dort und wurde so mit seiner Familie abgeschoben.

Wie viele jüdische Einwohner Altenburgs genau am 28. Oktober 1938 nach Beuthen abgeschoben wurden, lässt sich leider nicht nachvollziehen. Bislang sind leider keine offiziellen Angaben bekannt und aufgrund des Fehlens der Meldebücher aus der betreffenden Zeit lässt es sich auch nicht genau rekonstruieren. Nach Überlieferungen sollen aus Altenburg etwa 50 Personen abgeschoben worden sein. Überliefert sind Berta Buchhalter und ihre zwei Kinder, Sima Buchhalter, die vierköpfige Familie Wilhelm Goldberg, die vierköpfige Familie Wolf Goldberg, die dreiköpfige Familie Hausmann (Meuselwitz), Simon Itzbiczki (Klausa), Perla Liebermann, die dreiköpfige Familie Neumann, die fünfköpfige Familie Oronowicz, Salomon Rosenmann, die sechsköpfige Familie Israel Soltes, Philipp Strassmann sowie der Kantor (Chazan) der hiesigen Kultusgemeinde Israel Waldmann. Wahrscheinlich wurden ebenfalls abgeschoben die sechsköpfige Familie Berlinski, Marjem Feintuch, die fünfköpfige Familie Habermann, Benjamin und Moische Liebermann und die sechsköpfige Familie Josef Rotenberg, konkrete Belege fehlen aber.

 

Familie Oronowicz konnte nach einem Aufenthalt in der Synagoge von Beuthen schließlich nach Altenburg zurückkehren. Ebenfalls zurück kam Berta Buchhalter – ihre Kinder waren auf dem mütterlichen Pass nicht eingetragen, so dass sie nicht abgeschoben werden konnte. Doch die Rückkehr nach Altenburg war für beide Familien nur ein kurzer Hoffnungsschimmer. Während sich von der Familie Oronowicz TochterCharlotte 1939 nach England und Vater Markus 1939 erst nach Polen und 1941 von dort über Sibirien und China in die USA retten konnte, wurden die anderen Familienmitglieder einschließlich der zwei kurzzeitig im jüdischen Kinderheim lebenden Kinder am 10. Mai 1942 ins Ghetto Belzyce bei Lublin deportiert, genauso wie Berta Buchhalter und ihre zwei Kinder. Keiner von Ihnen überlebte. Wanda Oronowicz, die sich schon dür eine Ausreise nach Palästina vorbereitete, wurde 1943 nach Auschwitz deportiert und dort am Ankunftstag ermordet, wie ein Freund von ihr später berichtet.

 

Die Ereignisse der „Polenaktion“ sind von zwei Altenburger Betroffenen dokumentiert. Zum einen hat Abraham Goldberg (geboren 1923 als Adolf Goldberg in Altenburg) in seinen „Erinnerungen aus Deutschland“ sehr detailliert über seine Erlebnisse berichtet, zum anderen beschreibt ein Brief von Salomon Rosenmann an seine Schwester Lina Gotlibowski aus dem Jahr 1939 den Tag. So wird offenbar, dass nach der Ankunft des Transports in Beuthen alle Juden aussteigen mussten, eine kurze Ansprache erfolgte und sich der Tross dann zu Fuß in Richtung Polen in Bewegung setzte. Auf polnischer Seite angekommen, wurde den Juden der Zutritt verwehrt, eine Rückkehr auf die deutsche Seite durch Androhung von Waffengewalt unmöglich. Und so mussten die Abgeschobenen die ganze Nacht zwischen den Grenzübergängen ausharren. Es nieselte die gesamte Nacht und früh war man komplett durchnässt. Salomon Rosenmann berichtet, es hätte von sieben Uhr früh bis sieben Uhr abends weder Wasser noch Brot gegeben. Es muss sich schrecklich angefühlt haben: zu wissen, dass beide Seiten (Deutsches Reich und Polen) die ausgewiesenen Juden nicht (wieder) ins Land lassen wollten, die ungewisse Zukunft, der „Kulturschock“ für die Kinder.

 

briefsalomonDie „Polenaktion“ zeichnet für die Altenburger Betroffenen eine düstere und Bilanz: Von kaum einem der Ausgewiesenen gibt es seit der Abschiebung Nachricht, der überwiegende Teil ist dem Holocaust zum Opfer gefallen. Einige konnten später noch fliehen, wie Moische Liebermann nach Palästina, andere überlebten durch starken Willen Ghetto und Zwangsarbeit. So konnten Wolf Goldberg und sein Sohn mit gefälschten Papieren aus dem Ghetto Lemberg fliehen, um später in der Roten Armee bzw. der „Arbeitsarmee“ zu dienen. Wolfs Frau Eugenie und Tochter Ella hingegen wurden 1943 in Lemberg erschossen. Wolf Goldberg und sein Sohn kamen nach Kriegsende zurück nach Deutschland, bevor sie 1949 nach Israel emigrierten. Luser Beller, seit 1933 in Leipzig lebend und im Zuge der „Polenaktion“ ebenfalls nach Polen abgeschoben, konnte sich mit Bruder Abraham bis nach Usbekistan durchschlagen, wo Abraham verstarb. Luser Beller kehrte nach Kriegsende zunächst nach Deutschland zurück und emigrierte schließlich nach Brasilien. Siegfried Soltes, 1923 in Altenburg als Sohn von Israel und Fajga Soltes geboren, wurde aus dem berüchtigten Lager Mauthausen befreit und reiste später nach Norwegen aus, wo er heute noch lebt.

 

Philipp Strassmann wurde 1941 in der Region um seinen Geburtsort Wojnilow erschlagen, wie Maria Strassmann, seine Frau, 1944 in einem Brief der Gemeindeverwaltung Wojnilow lesen musste. Israel Waldmann soll ebenfalls 1941 bei dessen Geburtsort Stryj ermordet worden sein.

 

Salomon Rosenmann, der uns mit seinem Brief ein Bild der „Polenaktion“ ermöglichte, war mit seiner Mutter Sima Buchhalter später nach Lemberg gegangen. Sie sollen später ins dortige Ghetto gekommen sein, wo sich ihre Spur bis heute verliert.

 

Noch vor der Pogromnacht, die sich in diesem Jahr auch zum 75. Mal jährt, wurde rund 50 Juden aus dem Altenburger Land ihre Würde, ihre (neue) Heimat, ihr Hab und Gut und in den meisten Fällen später auch ihr Leben genommen. Die zwei überlieferten Dokumente zeichnen ein erschreckendes Bild der unmenschlichen Aktion der Nazis, sie sind eine eindrucksvolle Mahnung für die Nachwelt.


Christian Repkewitz

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